Transformation Europas im Spätmittelalter. Herrschaft, Stände, Kirche und geistige Kultur Ostmitteleuropas vor dem Hintergrund von gesamteuropäischen Prozessen von Austausch, Transfer und Adaption

Von
Sven Jaros, Universität Leipzig

Vom 31. August bis zum 5. September 2015 lud das Herder-Institut in Marburg zu seiner ersten mediävistisch ausgerichteten Sommerakademie, organisiert von Norbert Kersken (Marburg) und Thomas Wünsch (Passau). An den fünf Tagen erhielten über zwanzig Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Russland, Polen, Tschechien, Ungarn, Italien und Deutschland die Gelegenheit, ihre aktuellen Forschungsvorhaben zur Diskussion zu stellen. Konzeptionelle Ergänzungen fanden diese Präsentationen durch Impulsreferate namhafter Forscherinnen und Forscher aus dem Gebiet der vormodernen Geschichte des östlichen Mitteleuropas. Abgerundet wurde das Programm durch die Möglichkeit, die reichhaltigen Bestände des Herder-Instituts kennenzulernen und in der Bibliothek auch eigene Literaturstudien betreiben zu können.

THOMAS WÜNSCH (Passau) präsentierte in seinem Eröffnungsvortrag ein weites Spektrum von begrifflichen und thematischen Annährungen an das Leitthema der Sommerakademie, Transformation. In der Diskussion wurde dabei deutlich, dass die zunehmend transnational und interdisziplinär ausgerichtete Geschichtswissenschaft die Diskussion um Begrifflichkeiten und deren Bedeutungsräume in stetig wachsendem Maße betreiben müsse, um vergleichbare Analysetermini für die gemeinsame, nationale Denk- und Narrationsmuster überschreitende Forschung zu finden. Als klassisches Beispiel wäre die „deutsche Ostsiedlung“ zu nennen, der man sich heutzutage eher unter dem Begriff des „Landesausbaus“, der „Kolonisation“ oder der Migrationsgeschichte nähern würde.

Die Präsentationen und Referate des ersten Tages drehten sich im weitesten Sinne um das Feld des städtisch-bürgerlichen Selbstverständnisses und seiner Verflechtungen im historischen Kontext. Während THOMAS KRZENCK (Leipzig) in seinem Impulsvortrag die unterschiedlichen Transformationen in den Städten der böhmischen Länder während der Hussitenbewegung im frühen 15. Jahrhundert im Spiegel der bürgerlichen Testamente darstellte, näherte sich PIOTR OKNIŃSKI (Warszawa) der Entstehung der Krakauer städtischen Kanzlei anhand des ältesten Stadtsiegels aus dem Jahre 1283. Der dünnen Überlieferungssituation wurde hier mit einem breit angelegten Vergleich verschiedener Städte des östlichen Mitteleuropas begegnet. MONIKA MICHALSKA (Kraków) untersuchte die wechselnden Reaktionen des Zisterzienserkonvents in Henrików auf die Entstehung einer unmittelbar angrenzenden Stadt. Die hier grob umrissenen Themenfelder wurden durch den Impulsvortrag von ANNA ADAMSKA (Utrecht) beschlossen. Auch hier standen Begrifflichkeiten und deren Forschungsdiskussion im Vordergrund. Insbesondere das Thema der städtisch-bürgerlichen Schriftlichkeit im Kontext der ethnischen und sprachlichen Heterogenität der Städte des östlichen Mitteleuropas wurde hier ausgeführt.

Der zweite Tag wurde von Beiträgen dominiert, die sich unter neuen Perspektiven den verschiedenen Herrschaftsverhältnissen und Herrschaftspersönlichkeiten in Mittel- und Osteuropa annäherten. Mit den Werkstattberichten von SVEN JAROS (Leipzig) über die Aushandlungsprozesse von Herrschaft in Rotreußen und ANDREA KLAUSCH (Jena) über die Transformationen in der Mark Brandenburg um 1400 rückte das jeweils verschiedenartige und dynamische Zusammenwirken von vielgestaltigen Akteurskonstellationen bei Herrschaftswechseln in den Blickpunkt. Mögliche Strategien der Generierung von Akzeptanz eines neuen Potentaten standen auch im Mittelpunkt der Untersuchungen von PÉTER BÁLING (Pécs) über die Thronfolge Karl Roberts von Anjou in Ungarn. In diesem Sinne widmete sich auch CHRISTIAN OERTEL (Erfurt) der Neubetrachtung der Herrschaftspraxis Wenzels IV. JURIY ZAZULIAK (Lviv) warf in seinem Impulsvortrag einen Blick auf die Entstehung der zweiten Leibeigenschaft in Kleinpolen und Rotreußen im 15. und 16. Jahrhundert. Dabei thematisierte er neben den rechtlichen Rahmenbedingungen auch die Frage der adligen Gewalt gegenüber den eigenen Untergebenen. Nachdem ROBERT GRAMSCH (Jena) umfassende Überlegungen zur Frage „Ostmitteleuropa als Innovationsraum im Spätmittelalter“ vorgestellte hatte, rückten kirchenhistorische Fragestellungen in den Vordergrund. Dabei untersuchte JARON STERNHEIM (Freiburg) die Handlungsstrategien und –potenziale der Akteure im Rigaer Erzbistumsstreit 1480-83, während ELKE FABER (Passau) ihre zwei Jahrhunderte umspannende Studie zur Entwicklung der Provinzialsynoden im politischen System Polen-Litauens präsentierte.

Kirchen- bzw. geistesgeschichtliche Fragestellungen prägten auch den dritten Tag der Sommerakademie, der von PIOTR PIĘTKOWSKI (Wrocław) eröffnet wurde. Sein Beitrag zur Frage der Exemtion des Bistums Kammin warf zahlreiche Fragen zur Glaubhaftigkeit der Exemtion im 12. Jahrhundert auf. Mit dem Beitrag von JULIANNA ORSÓS (Pécs) folgte ein großer zeitlicher Sprung in das 15. und 16. Jahrhundert. Anhand von humanistischen Schriften stellte Orsós Spannungen im christlich-jüdischen Zusammenleben vor dem Hintergrund der innerchristlichen Religionskonflikte und der osmanischen Expansion dar. Einen räumlich und zeitlich weiten Bogen spannte GIOVANNI PATRIARCA (Roma), indem er die geistesgeschichtliche Migration der Philosophie von Johannes Duns Scotus und Ockhams von England über die ambivalenten Reaktionen in Zentraleuropa (zum Beispiel Paris) bis hin zur Manifestation in den neuen Universitäten im östlichen Mitteleuropa nachverfolgte. Das letzte Promotionsprojekt des dritten Tages stellte ANDREA HAUFF (Gießen) vor. Ihr Ziel sei es, die Personennetzwerke hinter den Kanonisierungen weiblicher Heiliger Mitteleuropas, hauptsächlich des 13. Jahrhunderts, aufzudecken. Der Tag wurde durch den Impulsvortrag von GISELA DROSSBACH (Augsburg) beschlossen. Nach einigen grundlegenden Bemerkungen zur Entstehung der Dekretalen kam sie auf die Probleme der Quellenlage für das östliche Mitteleuropa zu sprechen. In der Diskussion wurden die möglichen Grenzen einer Rezeption der Dekretalen in diesen Ländern umrissen.

Der vierte Tag war weiteren kultur- bzw. historiographiegeschichtlichen Projektvorstellungen gewidmet. Während ANTONI TADEUSZ GRABOWSKI (Warszawa) die Darstellung Polens und des östlichen Mitteleuropas bei Alberich von Trois-Fontaines beleuchtete, trug TOMASZ PEŁECH (Wrocław) die überlieferten Informationen zu Kreuzfahrern aus Polen zusammen und interpretierte sie im Sinne einer voranschreitenden Europäisierung des Landes. ANASTASIA BRAKHMAN (Köln) umriss anschließend ihr Forschungsvorhaben, die soziale Mobilität im Umfeld des Herrschers zu untersuchen. Dabei wurde unter anderem über die schwierige Quellenlage für eine derartige Fragestellung in den Ländern des östlichen Mitteleuropas diskutiert. Die beiden Vorträge von ALICJA DOBROSIELSKA (Olsztyn) und MONIKA RUSAKIEWICZ (Wrocław) behandelten den südlichen Ostseeraum. Während Dobrosielska zu einer differenzierten Betrachtung der verschiedenen pruzzischen Stämme vor der Eroberung durch den Deutschen Orden anregte, zeigte Rusakiewicz einige Beispiele für die pommersche Identitätskonstruktion zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Abgeschlossen wurde der vierte Tag durch den Impulsvortrag von RIMVYDAS PETRAUSKAS (Vilnius). Anhand von Beispielen aus dem Großfürstentum Litauen zeigte er die Formierungsprozesse des Adelsstandes auf, wobei er besonders auf die Verflechtungen mit dem Reich einging und deutlich machte, welche Rolle der Adel für die ökonomische Entwicklung der Region hatte.

Der letzte Tag machte den interdisziplinären Charakter der Sommerakademie besonders deutlich. Während DÁNIEL BAGI (Pécs) in seinem Impulsvortrag zu einer philologischen und historischen Neubewertung der Chroniken des Heinrich von Mügeln aufrief, widmeten sich die folgenden Referate vor allem kunsthistorischen Themen und suchten die Verknüpfung mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen. ROMANA PETRÁKOVÁ (Freiburg) zeigte am Beispiel der Heiligkreuzkirche in Breslau die Kontinuität der Memorialpraxis auch über den Herrschaftsantritt der Luxemburger in Schlesien hinweg. POLINA MAIER (Würzburg) machte deutlich, wie der Transfer eines ikonographischen Typus über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg erfolgen konnte. JOANNA OLCHAWA (Osnabrück) begab sich schließlich auf die Spuren von Bronzewerken aus den Hildesheimer Werkstätten des Hochmittelalters in Mittel- und Osteuropa.

In seiner abschließenden Zusammenfassung umriss NORBERT KERSKEN (Marburg) die räumlichen, zeitlichen und thematischen Schnittmengen der präsentierten Referate. Dabei machte er deutlich, dass die klassischen Epochengrenzen des „Spätmittelalters“ für den Untersuchungsraum des östlichen Mitteleuropas wenig Anwendung finden können. Die vorgestellten Forschungsvorhaben entwickelten ihre Untersuchungszeiträume daher eher anhand von inhaltlichen Faktoren. In der Summe reichte die Untersuchungsspanne der Sommerakademie vom 12. bis ins 17. Jahrhundert. In räumlicher Hinsicht zeigte sich das östliche Mitteleuropa als ein Raum ohne klare Grenzen. Mit Brandenburg und Rotreußen beziehungsweise Livland und Ungarn sollen die äußersten Untersuchungsregionen in West, Ost, Nord und Süd nur kurz erwähnt werden. Zahlreiche Fragestellungen sind darüber hinaus eng mit Geschehnissen im Reich, in Italien oder im westlichen Europa verbunden. Thematisch zeigte die Tagung ein breites Spektrum von Zugängen. Neuere Ansätze von Herrschafts- und Politikgeschichte waren genauso vertreten wie Beiträge zur Erforschung der Stadt-, Kirchen-, Wissenschafts-, oder Kunstgeschichte. Die vorgeschlagenen Analysekategorien „Austausch“, „Transfer“, „Adaption“, „Akkulturation“ und „Transformation“ fanden in vielfältiger Art und Weise Anwendung, wie Kersken resümierte. Dabei wurde aber deutlich, dass eine strenge Operationalisierung und Definition notwendig ist, um diese Begriffe sinnvoll und gewinnbringend anwenden zu können. Immerhin konstituieren sich sämtliche Untersuchungsgegenstände der Geschichtswissenschaft stets im Prozess.

Die Sommerakademie am Herder-Institut brachte ein breites Feld von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zusammen. Gemeinsame Probleme und Herausforderungen in der historischen Erforschung des östlichen Mitteleuropas, beispielsweise die Quellenlage, wurden dabei sehr deutlich. Durch das späte Ausgreifen von Schriftlichkeit könnten manche Fragestellungen für diese Region gar nicht oder nur hypothetisch beantwortet werden. Zahlreiche präsentierte Forschungsvorhaben müssten weiterhin eine konzeptionelle Gradwanderung absolvieren: Einerseits könne man viele Prozesse in Verwaltung oder Wirtschaft beobachten, die vom westlichen Mitteleuropa nach Osten hin ausstrahlten und dort „verspätet“ Fuß fassten. Andererseits müsse eine zeitgemäße Analyse dieser Phänomene veraltete Narrative einer „verspäteten Modernisierung“ oder strikten „Okzidentalisierung“ vermeiden und Darstellungsformen finden, die Transfer- und Adaptionsprozesse ebenso berücksichtigen, wie die eigenen Qualitäten und Dynamiken der Untersuchungsräume.

Eng mit dieser Gradwanderung ist eine weitere Herausforderung für die historische Erforschung des östlichen Mitteleuropas deutlich geworden: Nach wie vor gelte es, stets sensibel für die teils sehr langlebigen nationalen Narrative und Konzeptionen zu sein, diese zu dekonstruieren und in angemessene Darstellungsformen zu überführen. Hierin liegt sicherlich eines der größten Verdienste der Sommerakademie, da sie Referentinnen und Referenten aus allen Ländern, die Gegenstand der Beiträge waren, gewinnen konnte. Somit konnte ein Erfahrungs- und Wissensaustausch stattfinden, um eine zeitgemäße, transnational orientierte Betrachtung des östlichen Mitteleuropas weiter befördern zu können. Hierfür gebührt insbesondere den beiden Organisatoren Norbert Kersken und Thomas Wünsch ein besonderer Dank.

Konferenzübersicht

Tag 1:
Norbert Kersken (Marburg) / Thomas Wünsch (Passau), Begrüßung

Thomas Wünsch (Passau), Einführungsvortrag: Ostmitteleuropa in den europäischen Austauschprozessen des Spätmittelalters

Impulsvortrag Thomas Krzenck (Leipzig), Bürgertestamente im spätmittelalterlichen Böhmen und Mähren und die Reflexion gesellschaftlicher Wandlungsprozesse

Piotr Okniński (Warszawa), The Formation of the Urban Chancellery in Cracow

Monika Michalska (Kraków), Mönche und Stadt. Transformation sozialer Verhältnisse des Zisterzienserklosters Heinrichau anhand der Aufzeichnungen des Heinrichauer Gründungsbuches

Impulsvortrag Anna Adamska (Utrecht), Towns – Literacy – Cultural Exchange in East Central Europe

Tag 2:
Sven Jaros (Leipzig), Mediation umstrittener Herrschaft. Rotreußen in der Zeit zwischen Kasimir III. und Władysław Jagiełło (1340-1434)

Andrea Klausch (Jena), Transformationen in der Mark Brandenburg um 1400

Péter Báling (Pécs), Viri Fideles – Ein soziales Netzwerk aus dem Mittelalter

Christian Oertel (Dresden), Mörder, Alkoholiker und Nekromant? Böhmen und das Reich zur Zeit Wenzels IV. (1378-1400)

Impulsvortrag Juriy Zazuliak (Lviv), Noble Lordship, Violence and the Origin of the Peasant Serfdom in Late Medieval Kingdom of Poland

Robert Gramsch (Jena), Ostmitteleuropa als Innovationsraum in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Jaron Sternheim (Freiburg), Argument und Strategie im Rigaer Erzbistumsstreit 1480-1483

Elke Faber (Passau), Provinzialsynoden im politischen System Polen-Litauens am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit

Tag 3:
Piotr Piętkowski (Wrocław), The Problem of Exemption of the Bishopric of Cammin in the Frame of Historiography

Julianna Orsós (Pécs), Jüdisch-christliche conviventia (Zusammenleben) und concivilitas (Mitbürgerschaft) im Römisch-Deutschen Reich

Giovanni Patriarca (Roma), Eine osteuropäische Migration des wissenschaftlichen Denkens in der Spätscholastik

Andrea Hauff (Gießen), Weibliche Heilige im Mittelalter. Förderkreise und Netzwerke

Impulsvortrag Gisela Drossbach (Augsburg), Kirchliche Raumorganisation im Spätmittelalter

Tag 4:
Antoni Tadeusz Grabowski (Warszawa), East Central Europe in the Consciousness of the Western Authors

Tomasz Pełech (Wrocław), The Crusades as an Aspect of the Process of the Europeanization

Anastasia Brakhman (Köln), Möglichkeiten, Formen und Grenzen sozialer Mobilität in der Umgebung eines Herrschers: Deutschland und das östliche Mitteleuropa des 11.-12. Jahrhunderts im Vergleich

Alicja Dobrosielska (Olsztyn), Ein tiefer Kulturwandel und die Eroberung Preußens (13. Jahrhundert)

Monika Rusakiewicz (Wrocław), Creating a Story about common Origins as a Part of the Pomeranian’s Identity Building in the 14th Century

Impulsvortrag Rimvydas Petrauskas (Vilnius), Der Adel Ostmitteleuropas als Träger von Transformationsprozessen

Tag 5:
Impulsvortrag Dániel Bagi (Pécs), Deutschsprachige Literatur in Ostmitteleuropa im 14. Jahrhundert: Das Beispiel Heinrich von Mügeln

Romana Petráková (Freiburg), Heilige Kreuzkirche zu Breslau – Kontinuität trotz Transformation

Polina Maier (Würzburg), Kulturtransfer im ostmitteleuropäischen Ostseeraum: Zur Entlehnungsgeschichte eines ikonographischen Typus

Joanna Olchawa (Berlin), Norddeutsche Bronzewerke in und aus Ostmitteleuropa und Sibirien. Die Suche nach den Ursachen der Verbreitung (12. bis 14. Jahrhundert) und die Untersuchung der Transformationsprozesse

Norbert Kersken (Marburg), Austausch, Transfer und Adaption im östlichen Mitteleuropa: Forschungsfragen und -perspektiven


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